Beim Sommerfestival Lothringair zeigt Aachens freie Kunstszene vor tausenden Leuten, was sie draufhat. Die Idee für das Fest kam Andrea Nickisch vor zehn Jahren.
Im nächsten Lied geht es um eine Zahnbürste.“ Sängerin Meike Karrasch steht auf einer Bühne in der Lothringerstraße neben der alten Kratzenfabrik und schlägt die Saiten ihrer Gitarre an. Sie singt davon, dass man manchmal ein zufälliges Zeichen brauche, das einem sagt: Hey, es wird schon alles wieder gut. Und so einen Trost habe sie einmal beim Blick auf die Zahnbürste gespürt, die ein lieber Freund bei ihr hat liegen lassen.
Die Leute stehen vorn am Bühnenrand oder lehnen weiter hinten an der Hauswand des Institut français. Mitten durch Meikes Publikum schieben sich weitere Besucher:innen durch die Straße. Es ist eng hier. Ein Imbisswagen quetscht sich auch noch dazu und verströmt Frittengeruch.
Jetzt setzen Meikes musikalische Begleiter Raphael und Phil ein: das Cajón – eine Kistentrommel – stärkt den Takt, das Keyboard verziert die Melodie des zarten Zahnbürsten-Lieds. Die Leute, die am Frittenwagen anstehen, wippen mit; immer mehr Menschen aus dem Besucherstrom bleiben stehen und hören zu. Ein junger Vater mit schlafendem Baby im Tragetuch setzt sich auf einen der wenigen Stühle.
Eine halbe Stunde später haben Meike, Raphael und Phil den ersten Auftritt des Musikprojekts „Soma’s Letters“ geschafft und grinsen in den Applaus des Publikums hinein. Ein paar von denen, die zugehört haben, kommen zur Bühne und gratulieren der Band. Es ist einer von rund fünfzig Auftritten heute am Tag des achten Lothringairs.



Dieses künstlerische Straßenfestival zieht sich jedes Jahr im Juni einmal durch die gesamte Lothringerstraße vom Suermondt- bis ins Frankenberger Viertel. Musik von Bands und DJs, Tanz- und Sprechperformance, gesellschaftskritische Statements und auch Blödelei, Infostände von Vereinen und Projekten, Streetfood und Kunstausstellungen in Geschäften und Hinterhöfen – die kreative Szene der Stadt kommt beim Lothringair zusammen. Und tausende Aachener:innen sind dieses Jahr dabei. Angefangen hat all das vor zehn Jahren mit der Idee von Andrea Nickisch.
Raus vor die Tür!
Andrea zieht 2007 von Brandenburg nach Aachen. Die alternative Kunst- und Kulturszene ist ihr Zuhause. „Ich war auf der Suche nach einem Ort, der Künstler:innen eine Plattform bietet ohne Profitabsicht.“ Fündig wird sie damals im Kulturraum Raststätte, einem ehemaligen Ladenlokal in der oberen Lothringerstraße. Andrea wohnt später auch im selben Haus und organisiert fortan mit dem Team der Raststätte Konzerte, Ausstellungen, Vorträge, Theater und vieles mehr.

„Die Idee war ein Straßenfest, um Nachbarschaft und Zusammenhalt in unserem Viertel zu stärken.“
Andrea Nickisch
„Im Sommer 2012 kam mir und meinem Mitbewohner Benedikt die Idee, ob man sowas auch mal auf die Straße bringen könnte, raus vor die Tür mit allen und für alle. Vielleicht macht ja auch die Nachbarschaft mit, die, die in der Straße wohnen oder einen Laden betreiben.“ Beide klopfen an viele Türen, die Ladenbesitzer:innen sind zurückhaltend, aber neugierig.
Nur wenige sind von Anfang an mit dabei. Andrea gründet mit zehn Leuten aus der Straße einen gemeinnützigen Verein, der das Ganze jetzt ehrenamtlich in die Hand nimmt. Es braucht Organisation, Genehmigungen von der Stadt und jede Menge Ideen. „Es ging uns um ein Fest für das ganze Viertel, bei dem sich die Leute kennenlernen, gemeinsam Kultur erleben und ein Gemeinschaftsgefühl entsteht.“
Beim ersten Lothringair ist vieles improvisiert. „Die Nachbarn haben Kuchen gebacken, das Material für die Bühnen suchten wir selbst zusammen.“ Etwa 15 Künstler:innen treten auf. Eine Band spielt im Friseurladen. Im Bettengeschäft werden Bücher vorgelesen und auf der Straße rekelt sich eine Tanzkompagnie.




Raus aus der Bubble!
Heute, zehn Jahre später, warten Christine Schlagloth, Alina Kreuz und Lea Weinberg auf die ersten Besucher:innen des Tages. Sie haben eine Ausstellung in der Raststätte, der einstigen Keimzelle des Lothringairs. Es ist inzwischen das achte Festival – zweimal fiel es aus wegen Corona. Hunderte Menschen werden heute die Bilder und Fotos der drei Künstlerinnen anschauen.
Christine, Alina und Lea haben voriges Jahr zusammen mit der Malerin Lina Risse das feministische Künstler:innen-Kollektiv „MatriarchART“ gegründet. Lea sagt: „Die Aachener Kunstszene ist geprägt von Männern. Es kommt oft vor, dass ich bei einer Ausstellung die einzige Frau bin – und ich bin dann auch die Einzige, der das überhaupt auffällt.“
Mit ihrem Kollektiv vernetzen sich die drei mit anderen Aachener Künstler:innen und laden gezielt Menschen ein, die ihrer Beobachtung nach oft übergangen werden: Frauen, Transpersonen, Leute, die sich keinem Geschlecht so richtig zugehörig fühlen, und andere. Alina, die das Kollektiv ins Leben gerufen hat, über die Idee: „Kunst macht jede:r von uns für sich allein. Als Kollektiv geht es uns darum, uns zusammenzuschließen, Ausstellungen zu organisieren und einander zu unterstützen.“

„Das Lothringair hat Aachen soo aufleben lassen.“
Meike Karrasch
Beim Lothringair wollen Christine, Alina und Lea natürlich ihre Werke zeigen. Aber auch ihr feministisches Kollektiv bekannter machen. Christine sagt: „Dass Frauen und andere Gruppen in der Kunst und in der Gesellschaft oft übersehen werden, ist ein Problem für uns alle. Wir wollen das ändern. Denn nur wenn alle gesehen werden, geht es gerecht zu. Wir sind froh, dass wir auf dem Lothringair die Gelegenheit haben, viele Menschen außerhalb unserer Bubble ansprechen zu können.“
Raus aus der Routine!
Seit 2013 wächst das Lothringair jedes Jahr. 2019 wird klar, dass die Ehrenamtlichen im Verein das nicht mehr alleine stemmen können. Der Musikbunker steigt jetzt als offizieller Veranstalter ein und hilft dem Lothringair-Verein bei der Organisation. Fast ein Jahr dauert es inzwischen, bis Programm und Finanzierung stehen. Spendengelder müssen gesammelt und Anzeigen fürs Programmheft verkauft werden.
Die Freiwilligen erledigen auch weniger freudvolle Aufgaben: Die Straße darf am Tag des Festivals nur von sechs Uhr bis Mitternacht für den Verkehr gesperrt werden. Das heißt: Frühmorgens beginnt der Aufbau, jeder Winkel wird geschmückt. Und schon in der Nacht muss alles wieder so sein wie vorher. Auch den Müll tausender Besucher sammeln Andrea und ihr Team bis dahin auf. „Danach brauch ich dann erst einmal eine Pause“, sagt Andrea und lacht. „Aber es ist einfach fantastisch, was in den Jahren aus dem Lothringair geworden ist, wie gut es ankommt!“



Nach ihrem Auftritt steht Musikerin Meike in einer Schar fröhlicher Freunde. Die 27-Jährige ist schon bekannt in der Aachener Musikszene. Sie ist die Sängerin der Rockband Tempting Waters. „Ich habe viele Songideen und persönliche Dinge, über die ich singen möchte. Wie zum Beispiel, dass mir an einem schlechten Tag merkwürdigerweise auch mal eine Zahnbürste Hoffnung geben kann. Das passte allerdings nicht in das Repertoire unserer Rockband.“ Darum hat sie sich mit ihrem Soloprojekt für das Festival beworben. „In den letzten Jahren ist die freie Kulturszene hier größer und vielfältiger geworden. Einfach wunderbar. Das Lothringair hat Aachen soo aufleben lassen.“