Tele­me­dizinArzt-Sprech­stunde per Computer

Sarah Veldeman und Michael Czaplik möchten alten Menschen Kran­ken­haus­ein­wei­sungen ersparen und Hausärzt:innen mehr Zeit verschaffen. Dafür testen sie einen neuen Helfer. Den TeleDoc.

Seit Tagen mag die alte Frau nichts trinken. Als der Pfleger eines Morgens mit ihr spricht, erschrickt er: Sie bekommt keinen geraden Satz heraus, kann kaum stehen, schaut nur wirr durch den Raum. „Ein Schlag­an­fall!“, denkt der Pfleger. Er wählt die 112, acht Minuten später bremst der Kran­ken­wagen vor dem Pfle­ge­heim. Nach fünf­zehn Minuten schließen die Sani­täter ihre Koffer. Alles gut, zum Glück kein Schlag­an­fall. Es lag am Flüs­sig­keits­mangel, und der kann zu ähnli­chen Symptomen wie ein Schlag­an­fall führen. Zur Sicher­heit wird die Pati­entin trotzdem ins Kran­ken­haus gebracht: zusätz­li­cher Stress für die verängs­tigte und verwirrte Seniorin.

Szenen wie diese gibt es häufig. Und sie könnten noch zunehmen, denn die Menschen in Deutsch­land werden immer älter. Gleich­zeitig gibt es weniger Pfle­ge­kräfte und Hausärtz:innen. Die Folge: Es mangelt an Zeit, um gesund­heit­liche Probleme bei Senioren zu erkennen und zu behan­deln, bevor es akut wird. Ist die 112 erst gewählt, kommen Bewohner:innen von Pfle­ge­heimen oft ins Kran­ken­haus – zur Sicher­heit, aber auch, weil manchmal die Haus­ärzte zu weit weg oder zu ausge­lastet sind, um nach einem Notruf die Versor­gung zu über­nehmen. Das wollen Sarah Veldeman und Michael Czaplik ändern. Sie forschen am Acute Care Inno­va­tion Hub der Klinik für Anäs­the­sio­logie der Uniklinik RWTH Aachen und testen mit ihrem Team in zwei Pfle­ge­heimen den TeleDoc.

Ein Tele-Doktor auf Rollen

Der TeleDoc sieht aus wie eine Kreu­zung aus Büro­stuhl und Arzt­praxis. Auf Rollen ist ein Ständer befes­tigt, ausge­stattet mit Bild­schirmen, Kamera, Medi­zin­ge­räten zur Messung von Vital­werten und elek­tro­ni­schem Stetho­skop. Der Sinn dahinter: Der TeleDoc macht Arzt­be­suche im Pfle­ge­heim leicht und stress­frei für Hausärzt:innen und Patient:innen. Denn sie können bleiben, wo sie sind – in ihrer Praxis und im Heim. Gibt es akute Beschwerden oder steht der regel­mä­ßige Arzt­be­such an, rollt eine Pfle­ge­kraft den TeleDoc zum Pati­enten.

Die Pfle­gerin über­nimmt die ärzt­li­chen Hand­griffe und über­prüft die Vital­werte der Heim­be­woh­nerin. Über den TeleDoc bekommen Ärzte alles mit und spre­chen mit Pati­entin und Pfle­ge­kraft. (Foto: St. Gereon Senio­ren­dienste GmbH)

Mit einem Klick ist die Haus­ärztin online verbunden, nimmt den Pati­enten über die Kamera in Augen­schein, spricht mit ihm, als säßen sie einander gegen­über. Was die Ärztin nicht selbst machen kann, zum Beispiel das Stetho­skop über den Rücken führen oder das EKG anlegen, über­nimmt die Pfle­ge­kraft. Auf ihrem Compu­ter­bild­schirm sieht die Ärztin in Echt­zeit, wie es um den Blut­druck, die Tempe­ratur, die Sauer­stoff­sät­ti­gung oder die Atem- und Herz­fre­quenz ihres Pati­enten bestellt ist.

Das ist für alle eine Umstel­lung: Hausärzt:innen müssen sich daran gewöhnen, nicht die eigenen Hände einsetzen zu können. Pfle­ge­kräfte tun mit ihren Händen dafür Dinge, die norma­ler­weise Ärztinnen oder Arzt­helfer machen. Und die betagten Patient:innen kommen mit einem tech­ni­schem Gerät in Berüh­rung, das es während eines Groß­teils ihres Lebens noch gar nicht gab.

 „Tele­me­dizin in der Alten­pflege – das ergibt Sinn!“

Dr. Sarah Veldeman, Koor­di­na­torin Forschungs­pro­jekt AIDA

Wie sich der tele­me­di­zi­ni­sche Arzt­be­such am besten in den Pfle­ge­heim­alltag einfügen lässt und ob er wirk­lich unnö­tige Kran­ken­haus­ein­wei­sungen verhin­dern kann, will Sarah im Projekt AIDA heraus­finden. Die Fach­ärztin für Anäs­the­sio­logie koor­di­niert das Projekt. Dafür steht die 34-Jährige in engem Kontakt mit den betei­ligten Hausärzt:innen und besucht regel­mäßig die Senio­ren­heime, die beim TeleDoc-Test mitma­chen.

Dort wird sie oft über­rascht. Da ist der Senior, der neugierig um den TeleDoc herum­geht und sich alles genau anschaut. Oder die über 90-Jährige, die sagt: Face­Time? Ach, das mach ich doch immer mit meinen Enkeln!“ Oder die Pfle­gerin, die es nicht als Mehr­auf­wand empfindet, den TeleDoc zu bedienen, sondern stolz darauf ist. Begeg­nungen, die Sarah sagen lassen: „Tele­me­dizin in der Alten­pflege – das ergibt Sinn!“

Der TeleDoc – ein wasch­echter Öcher

Dass gerade in Aachen erforscht wird, wie die medi­zi­ni­sche Versor­gung in Pfle­ge­heimen durch den TeleDoc verbes­sert werden kann, hat einen guten Grund: Seit 2014 gibt es hier das Telen­ot­arzt-System – welt­weit das erste seiner Art. Rettungs­wagen und ‑kräfte sind tech­nisch so ausge­stattet, dass immer ein Notarzt dabei ist, auch wenn er nicht zum Einsatzort fährt. In der Haupt­feu­er­wache sitzen die Telenotärzt:innen vor Bild­schirmen, stellen Fern­dia­gnosen und verschreiben Medi­ka­mente. So genügt es in vielen Fällen, wenn das Rettungs­wa­gen­team ohne Notarzt zu einem Einsatz fährt. „Das Telen­ot­arzt-System entlastet Notärzte“, sagt Sarah.

Michael war einer derje­nigen, die auf die Idee kamen, so etwas auch für die Alten­pflege zu entwi­ckeln. Er ist Professor und leitet den Acute Care Inno­va­tion Hub der Klinik für Anäs­the­sio­logie an der Uniklinik. Dass er zu einem der Wegbe­reiter der Tele­me­dizin in Aachen wurde, liegt auch am Fern­sehen. Er war ein Fan der Serie „Notruf Cali­fornia“, in der zwei Rettungs­sa­ni­täter bei ihren Einsätzen über Funk von Ärzten ange­leitet werden.

Sie brachte ihn vor Jahren zum ersten Mal auf den Gedanken, mit dem er heute den Sinn der Tele­me­dizin begründet: „Oft braucht es vor Ort nicht die Hände der Ärzte, sondern nur deren Erfah­rung und Wissen.“ Gemeinsam mit seinem Chef Rolf Rossaint, Direktor der Klinik für Anäs­the­sio­logie und Erfinder des Telen­ot­arztes, grün­dete der heute 42-Jährige vor acht Jahren die Docs in Clouds Tele­Care GmbH. Zu ihr gehören Mediziner:innen, Ingenieur:innen, Informatiker:innen, die gemeinsam die Soft­ware für das Telen­ot­arzt-System entwi­ckelten – und den TeleDoc.

„Oft braucht es vor Ort nicht die Hände der Ärzte, sondern nur deren Erfah­rung und Wissen.“

Prof. Michael Czaplik, Geschäfts­führer Docs in Clouds

Damit der TeleDoc tatsäch­lich zur Entlas­tung wird, meldet Sarah dem Entwick­ler­team die Erfah­rungen der Pfle­ge­heime zurück. Und die Mitar­bei­tenden von Docs in Clouds über­tragen die Erfah­rungen auf den TeleDoc. Dass er zwei Bild­schirme hat, war zum Beispiel der Wunsch eines Seniors. Denn so können Patient:innen und Pfle­ge­kräfte gleich­zeitig den Arzt oder die Ärztin sehen.

Zurzeit wird daran geforscht, wie sich Blut­druck oder Körper­tem­pe­ratur kontaktlos erfassen und über­tragen lassen. Dann müssten Pfle­ge­kräfte keine Kabel mehr verlegen. Viel­leicht wird es in fernerer Zukunft sogar möglich, Gerüche zu über­tragen. Denn oft sind es auch die Sinnes­reize, die Ärzt:innen wissen lassen, was mit ihren Pati­enten los ist. Was aber nie kommen wird, wenn es nach Michael geht: dass der TeleDoc auch eigen­ver­ant­wort­lich eine Diagnose stellt. Die soll in Menschen­hand bleiben. „Die Tele­me­dizin dient nicht dazu, Ärzte zu ersetzen. Sie soll eine Verbes­se­rung sein und Frei­raum schaffen“, sagt Michael. 

Das Forschungs­pro­jekt AIDA

Das Projekt AIDA (Arbeits­ent­wick­lung in der Alten­pflege durch Einfüh­rung eines tele­me­di­zi­ni­schen Notdienst-Konzeptes) lief Ende 2019 an und soll drei Jahre dauern. Geleitet wird es vom Acute Care Inno­va­tion Hub der Klinik für Anäs­the­sio­logie an der Uniklinik RWTH Aachen. Außerdem betei­ligen sich daran zwei Senio­ren­heime und zwei Haus­arzt­praxen, die AOK Rheinland/Hamburg, die Docs in Clouds Tele­Care GmbH und das Beratungs‑, Quali­fi­zie­rungs- und Forschungs­in­stitut MA&T.

Das erklärte Ziel von AIDA ist, die ärzt­li­chen und pfle­ge­ri­schen Personal-kapa­zi­täten effek­tiver zu nutzen, die Verän­de­rungen in der Alten­pflege arbeits­wis­sen­schaft­lich auszu­werten sowie mehr Zeit für die mensch­liche Betreuung zu schaffen. Geför­dert wird AIDA durch das Land NRW und den Euro­päi­schen Fonds für regio­nale Entwick­lung.

Weitere Infos zum Projekt AIDA:

projekt-aida.org


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