Die meisten von uns mögen Mode und kaufen viele Klamotten. Die Massenware hat schlimme Folgen für andere Menschen und die Umwelt. Sechs junge Öcher:innen wollen das ändern – und haben schon damit angefangen.
Das T‑Shirt aus dem Urlaub. Der Rock, an dem die Kinder zerrten, als sie noch klein waren. Die perfekte Jeans. Wir alle haben diese besonderen Kleidungsstücke. Manche sind mit Erinnerungen verwoben. In anderen fühlen wir uns einfach wohl. Mode macht Spaß. Doch der Spaß hat ein Loch. Dieses Loch nennt sich „Fast Fashion“. Das sind Kleidungsstücke, die schnell, billig und unter schlimmen Umständen hergestellt werden, die zuerst unsere Kleiderschränke füllen und kurz danach die Altkleidercontainer.
Durchschnittlich kaufen Deutsche im Jahr 60 neue Kleidungsstücke. Fast die Hälfte davon wird nicht getragen. Die Folgen dieser schnellen Mode betreffen nicht uns direkt, sondern die Umwelt und andere Menschen. Um ein einziges Baumwoll-T-Shirt herzustellen, sind 15 Badewannen voll Wasser nötig. Unmengen an Insektenvernichtungsmitteln für die Baumwollfelder kommen dazu. Und die Chemikalien, die unsere Kleider bunt machen.
Doch das bleibt für uns unsichtbar. Verborgen hinter verlockenden Preisen – die nur möglich sind durch unmenschliche Arbeitsbedingungen in den Fabriken Asiens. Wenn Unfälle passieren wie 2013, als eine eingestürzte Fabrik in Bangladesch über tausend Arbeiter:innen das Leben kostete, wird klar: Der letzte Schrei kann bittere Wahrheit werden.
Die Textiltechnikerin
„Häufig passieren in den Fabriken Unglücke, weil für die Wartung der Maschinen keine Zeit ist und Arbeitssicherheit zu teuer“, sagt Textiltechnikerin Melina Sachtleben. Sie steht in einem grauen Gebäude auf dem RWTH-Campus Melaten neben einer riesigen Maschine und lässt durchsichtige Plastikkügelchen durch ihre Hand rieseln. Diese Schmelzspinnmaschine verwandelt die Kügelchen in Fasern, die später zu Stoffen verwebt werden.
Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Textiltechnik der RWTH (ITA) erforscht, wie sich diese Kunstfasern in Zukunft für neue Stoffe wiederverwenden lassen. Und wie man sie ohne knappes Erdöl herstellen kann. „Über 70 Prozent der Textilien sind Kunstfasern. Denn Baumwolle braucht viel Fläche und Wasser und reicht nicht aus, um alle Textilien herzustellen. Wenn wir nachhaltigere Kleidung wollen, brauchen wir Kunstfasern aus nachwachsenden Rohstoffen“, sagt Melina.
„Für nachhaltige Kleidung sind biobasierte Kunstfasern die Zukunft.“
Melina Sachtleben
Melina ist Teil von Biotexfuture. Das Projekt von Wissenschaftler:innen und Menschen aus der Textilindustrie hat ein Ziel: Kunstfasern nachhaltig herzustellen. In vielen Versuchen an der Schmelzspinnmaschine testet Melina die Eigenschaften von Kunstfasern auf Biobasis, zum Beispiel Mais.
Nur wenn die Textilindustrie sie wie Kunstfasern aus Erdöl verarbeiten kann, setzt sie sie auch ein. Und das will Melina erreichen. Spätestens seit sie für eine Bekleidungsagentur acht Monate lang in Asien arbeitete und die Zustände in den Fabriken sah. „Ich sehe die Industrie in der Pflicht“, erklärt die 33-Jährige. „Da machen viel zu viele Unternehmen, was sie wollen.“
Der Soziologe
An der Tür von Christoph Heckwolfs Büro im Soziologie-Institut prangt groß „Create the Change“, also „Gestalte den Wandel“. Ein Poster des Projekts Biotexfuture, an dem auch er beteiligt ist. Doch dem Soziologen geht es anders als Melina nicht um die Herstellung von Textilien. Ihn treibt die Frage um: „Wie bringt man das Ding mit der nachhaltigen Kleidung den Leuten bei?“ Denn für den 34-Jährigen ist klar, dass Modefirmen das alleine nicht richten können: „Es gibt ja auch die Nachfrage. Und selbst wenn wir wissen, dass unser Verhalten für Probleme sorgt, fällt es uns schwer, es zu ändern.“
„Wenn die Leute mehr über das Thema wissen, verhalten sie sich auch anders.“
Christoph Heckwolf
Christoph weiß, dass auch gesellschaftliche Regeln unsere Kleidung zum Problem werden lassen: Zerknitterte oder fleckige Kleider sind nicht tragbar, also waschen und bügeln wir – und verbrauchen dabei viel Energie. „Wir können nicht jedes Verhalten ändern. Manches aber schon. Und mit dem Wissen fängt es an.“
Vor zwei Jahren rief er ein Seminar an der RWTH ins Leben, bei dem Studierende das Wissen um nachhaltiges Kleiden praktisch unter die Aachener:innen brachten. Aus diesem Seminar entstand die Initiative „nAChhaltig angezogen“: eine Gruppe von derzeit sieben Studierenden, die die Öcher:innen in ihrer Freizeit über umwelt- und menschenverträgliches Anziehen informiert und Handelnde vernetzt.
Die Netzwerkerin
Michelle Kaever war von Anfang an bei „nAChhaltig angezogen“ dabei. Wenn die 24-Jährige einen Secondhandladen betritt, ist sie in ihrer Welt. Sie liebt die kleinen Geschäfte, in denen aus einem abgelegten Teil des einen das neue Lieblingsstück der anderen wird.
„Es gibt so viele Teile, die man noch nutzen kann. Und wenn wir sie wiederverwenden, wandern sie nicht auf den Müll. Außerdem macht die Schatzsuche Spaß“, sagt sie und mustert genießerisch die bunten Blusen. „Ich habe mich schon immer für Mode interessiert.“
„ Die meisten Sachen kann man einfach weiternutzen.“
Michelle Kaever
Michelle kennt die Aachener Secondhandgeschäfte und deren Inhaber:innen. Das liegt auch an ihrem Einsatz für die Initiative. Bei einer Stadttour bringt sie Interessierte mit Secondhandläden und anderen Geschäften mit nachhaltigen Ideen zusammen. Sie verfasst Porträts über Läden und Menschen für den Instagram- und Internetauftritt von „nAChhaltig angezogen“.
Das Netzwerken macht der Gesellschaftswissenschaftsstudentin Spaß. Sie organisiert Kleidertauschpartys und Flohmärkte und setzt immer wieder neue Ideen um. Ganz neu ist eine offene Reparaturwerkstatt mit Nähmaschinen. Ein Geschäft, mit dem Michelle zusammenarbeiten möchte, ist Ikigo Studios.
Die Unternehmensgründerin
Anna Agtas betreibt Ikigo Studios noch hauptsächlich im Internet. Aber im lichtdurchfluteten Atelier des Modelabels Berg & Kather in der Lothringerstraße können ihre Kund:innen die Kleidungsstücke anfassen und anprobieren. Bei Ikigo kann man kaufen oder leihen. Oder zuerst leihen und später kaufen. Oder schon einmal Geliehenes kaufen – die Stücke nennt sie nicht secondhand, sondern „pre-loved“, also schon-mal-lieb-gehabt.
Am Schneidertisch erzählt Anna, wie es zu Ikigo kam: „Ich wollte schon immer Kleidung entwerfen werden und habe Modedesign studiert. Zu den großen Designer:innen und Labels zog es mich aber nicht. Bei einem Praktikum bei einem Modemagazin war ich schockiert von dem System hinter der Kleidung. Diese Massen von Klamotten, die für ein Shooting durch die Welt geschickt werden – wahnsinnig.“ Tiefere Einblicke in verschiedene Bereiche der Modewelt folgten und Anna merkte: „In keinem Teil der Branche läuft es so, wie es laufen sollte. Das Problem ist die Massenware. Dem will ich etwas entgegensetzen.“
„ Das Problem ist, dass Mode Massenware ist. Dem will ich etwas entgegensetzen.“
Anna Agtas
Anna wollte mehr Kreislauf. Das wurde für sie noch wichtiger, als ihr Sohn zur Welt kam. Die junge Mama fragte sich, was das für eine Welt ist und was sie tun kann, um sie zu verbessern. Dabei half ihr Ikigai. Der japanische Begriff steht für den Lebenssinn. Um ihn zu finden, stellte Anna sich Fragen: Was liebe ich? Was kann ich? Was braucht die Welt? Wofür werde ich bezahlt?
Die Antworten, die sich die 31-Jährige gab, ließen sie Ikigo Studios gründen, mit dem sie dem alten Muster der Modewelt entkommen will. „Das, was ich mache, sollte eigentlich die Politik tun: genau hinschauen bei den Hersteller:innen!“, sagt sie. Um ins Ikigo-Sortiment zu dürfen, müssen Labels Anna in persönlichen Gesprächen und mit geprüften Zertifikaten beweisen, dass die Kleidung fair und umweltverträglich entsteht.
Weil es Anna um mehr als das eigene Geschäft geht, besucht sie Workshops, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Bei Melina nahm sie am Workshop „BioÖkonomie in der Textil- und Modebranche“ teil. Kreisläufe der zwischenmenschlichen Art.
„In der WG teilen wir alles aus unseren Kleiderschränken.“
Luca Grittner und Eva Hoppmanns
Die Konsumentinnen
Bei Luca Grittner und Eva Hoppmanns kreisen Kleidungsstücke. Die beiden 26-Jährigen leben zusammen mit drei anderen Frauen in einer WG – mit ähnlichem Stil und ähnlichen Kleidergrößen. Eva, die Stadtplanung studiert, sagt lachend: „Ich habe gerade Lucas Pulli an, Maras Hose – und Luca trägt Ramonas Shirt.“
Der Grund für den Kleidertausch ist simpel: Spaß an Mode, an dem Gefühl, mal was anderes zu tragen als immer die eigenen eingetragenen Sachen. Aber auch das Wissen um die Folgen der schnellen Mode spielt eine Rolle, wie die zukünftige Architektin Luca erklärt: „Ich tue mich inzwischen schwer, neue Sachen zu kaufen. Seitdem ich auf einer Textilmesse gejobbt habe und sah, wie ausgestellte Kleidung danach einfach geschreddert wurde. Trotzdem will ich manchmal auch etwas Neues haben.“
Zum Beispiel für die Hochzeit ihrer Schwester. Das elegant fließende Kleid lieh sie sich bei Ikigo Studios. Weil nachhaltige Kleidung, die nicht gebraucht ist, den studentischen Geldbeutel sprengt? Nicht unbedingt, meint Eva: „Wir brauchen ja gar nicht so viel, wie wir meinen. Und wer seltener etwas kauft, kann sich auch mal was Kostspieligeres leisten.“
OecherLab lädt zum Mitmaachen
Habt Ihr Lust bekommen, mehr über nachhaltige Kleidung zu erfahren oder sie sogar selbst zu gestalten? Das OecherLab bietet Euch den Raum und die Veranstaltungen dazu: Bis 30.10.2022 geht es im Kapuziner Karree unter dem Titel „Fast Circular Fashion“ um innovative Ideen für die Mode von morgen und wie sie Gestalt annehmen: Bei Workshops könnt Ihr Euch im Nähen, Färben mit Pflanzen, Upcycling und mehr ausprobieren.
Das Magazin Öcher – Ihr für Aachen bedankt sich bei den Fotograf:innen der Fachhochschule Aachen, Bereich Gestaltung, für die inspirierende Zusammenarbeit! Aline Pape, Nicolai Platzen und Florian Dankelmann haben diese tollen Bilder unserer Titelgeschichte fotografiert.