Über eintausend Menschen in der Städteregion Aachen haben keine Wohnung. Sie leben am Rand der Gesellschaft. Engagierte Öcher:innen unterstützen sie dabei, wieder in die Mitte zurückzufinden.
Was bedeutet es, ein Zuhause zu haben? Es gibt einen Ort, an dem ich für mich sein und das machen kann, wonach mir gerade ist. Ein Ort, an dem mich niemand stört oder vertreibt. Ein Ort, wo ich hingehöre und mich sicher fühle. Hier sind die Dinge, die mir wichtig sind: meine Kleider, meine Fotos, mein Essen und meine warme Bettdecke. Wer ohne Zuhause ist, hat das alles nicht.
Menschen, die ihre Wohnung verloren haben, stehen am Rande unserer Gesellschaft und fallen fast aus ihr heraus. Oft schämen sie sich und natürlich leiden sie unter der Situation. Sie weichen den Blicken aus, die sie ohnehin selten treffen. Sie können dadurch das Gefühl bekommen, nicht mehr richtig da zu sein und zu verschwinden. Und das Verrückte ist: Auch diejenigen, die an ihnen vorbeigehen – am Bahnhof, auf dem Bürgersteig, an der Holzbank –, verhalten sich oft so, als wären diese Menschen nicht da. Denn manchmal scheint es einfacher zu sein, die Straßenseite zu wechseln, anstatt jemandem in die Augen zu schauen und zu fragen, wie man helfen kann.
In Deutschland sind 262.600 Menschen offiziell wohnungslos.
38.500 von ihnen leben tatsächlich auf der Straße und werden deswegen als obdachlos bezeichnet. Die anderen finden bei Freunden und Verwandten eine Unterkunft oder leben in öffentlichen Einrichtungen. In der Städteregion Aachen sind rund 1.200 Menschen wohnungslos — Männer betrifft es doppelt so häufig wie Frauen.
Manche denken, dass die Betroffenen selbst schuld sind an ihrer Situation. Dass sie Fehler gemacht haben, dass sie suchtkrank sind und einfach nur aufhören müssen, zu saufen oder Drogen zu nehmen. Beim genauen Hinsehen zeigt sich aber: Die Gründe, in solch eine Situation zu kommen, sind verschieden. Das kann eine Kündigung des Mietvertrags sein oder Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheit, eine Trennung, Sucht oder von allem etwas.
Aufwärmen und satt werden
Die Franziskanerin Schwester Veronika fragt nicht danach, warum ihre Gäste in die Wärmestube des Schervier-Ordens kommen. „Das steht mir auch nicht zu“, sagt sie. „Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass es idyllisch ist, draußen zu leben.“ Sie und ihr Team machen im Kloster an sechs Tagen in der Woche Frühstück mit Kaffee, Tee, Brötchen und Butterbroten für Arme. In dem Raum ist Platz für eine gut gefüllte Theke und 32 Stühle an Gruppentischen.
Schon kurz nach acht Uhr öffnen die Schwestern die schweren Tore des Klosters an der Ecke Kleinmarschier-/Elisabethstraße. Die Gäste, ein paar haben schon vor dem Tor gewartet, ersteigen die Treppen zu dem Raum neben der Küche. Hier hat das Team der Wärmestube alles vorbereitet. Im Ofen backen Brötchen auf, der Kaffee ist frisch gebrüht. Marmelade und Schokocreme stehen auf den Tischen bereit und Schwester Rafaelis schmiert dutzende Butterbrote zum Mitnehmen. Bis 11.30 Uhr ist hier richtig Betrieb.
Die Gäste finden einen Platz und setzen sich dazu, stellen ihr Zeug ab, schnappen sich einen Teller und sehen, was die Theke hergibt. Ein komplettes Frühstück kostet 50 Cent, eines ohne Wurst und Käse bekommen sie umsonst. Manche sind still und in sich gekehrt, andere plaudern lautstark mit Bekannten. Immer wieder wird Nachschub besorgt. Wenn jemand geht, nimmt auch schon der nächste Platz.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es idyllisch ist, draußen zu leben.“
Schwester Veronika
Der 50-jährige Thomas (Name von der Redaktion geändert) bestreicht sich ein Brötchen mit Marmelade und erzählt: „Hier ist meistens kein Streit. Das Frühstück ist gut und ich kann es mir leisten, obwohl ich nicht viel Geld habe.“ In der letzten Nacht hat Thomas in der Notschlafstelle übernachtet. Danach kommt er meistens direkt hierher, weil er hungrig ist. Thomas ist etwas misstrauisch, und Fragen gestellt zu bekommen, ist ihm nicht ganz behaglich. Er wuchs als eines von sechs Kindern in einer Schaustellerfamilie auf. Autoscooter, Schießbuden und Schiffschaukeln waren seine Welt. Da war er immer unterwegs. „Ich kann an zwei Händen abzählen, wie oft ich in der Schule war“, sagt er. Jetzt, nach der Trennung von seiner Frau, kann er niemanden seinen Freund nennen. Er ist einsam und mutlos. Eine feste Arbeit hat er gerade auch nicht. „Und wenn man keine Arbeit hat, ist es schwierig, eine Wohnung zu finden.“ Thomas muss weiter. Wohin, sagt er nicht.
Fast hundert Gäste kommen im Laufe eines Vormittags in die Franziska-Schervier-Stube und nutzen nach Bedarf die Möglichkeit, sich aufzuwärmen, satt zu werden, zu duschen oder aus der Kleiderkammer etwas zum Anziehen mitzunehmen. Schwester Veronika und ihren Kolleg:innen ist es wichtig, für ihre Gäste da zu sein. „Das ist meine Aufgabe, ich fühle mich hier am richtigen Platz und erfahre viel Dankbarkeit“, sagt Veronika, die seit 20 Jahren in der Wärmestube des Klosters arbeitet.
Durch das Gärtnern Brücken bauen
Björn Schum fiel schon zu Schulzeiten auf, wie stark das soziale Umfeld und die persönlichen Erfahrungen das Leben eines Menschen beeinflussen. Vor zehn Jahren, während eines Praktikums bei der Caritas- Suchthilfe, kam er auf eine gute Idee: „Ich habe die Besucher der Caritas-Einrichtung Kiosk Troddwar am Kaiserplatz gefragt, was sie selbst richtig produktiv anpacken wollen, um etwas zu verändern. Dabei kam heraus, dass sie den Kaiserplatz verschönern wollen.“ Sie räumten auf, entfernten eine Hecke mit viel Efeu und pflanzten stattdessen Blumen in bunten Töpfen. Was damals vor der eigenen Haustür begann, entwickelte sich bald zu weiteren gärtnerischen und handwerklichen Tätigkeiten. „Wir konnten die Erfolge direkt sehen und spüren. Das war wie ein Dominoeffekt und motivierte uns alle weiterzumachen“, erinnert sich Björn.
Heute grünt es in einem Hinterhof der Augustastraße – der Ort, an dem das Projekt Querbeet weiter wachsen konnte. Hier ist die Gärtnerei, in der das Team aus Wohnungslosen, Suchtkranken und Sozialarbeitern die Pflanzen und Töpfe vorbereitet, die die Stadt verschönern. Auf einer Werkbank stehen dutzende alte Konservendosen, die bunte Farbe bekommen und mit Erde und Pflänzchen befüllt werden. Die Dosen hängen dann an Laternen oder Zäunen und machen die graue Innenstadt bunter. Jeden Tag zwischen 11 und 14 Uhr schwärmen im Auftrag dieser selbsternannten „Blumen- und Konfettifabrik“ kleine Gruppen von jeweils fünf Personen aus.
„Ich nehme die Menschen so, wie sie sind.“
Laurids Elsing
Sie sind mit einem Bollerwagen, Gartenwerkzeug und Warnwesten ausgestattet und pflanzen Blümchen oder auch ganze Hochbeete. Mark Krznaric leitet das Projekt der Caritas und sagt: „Wir sind eine quietschbunte Gruppe von Menschen mit verschiedenen Hintergründen. Einige sind wohnungslos, viele auch suchtkrank. Weil wir die Stadt ein Stück schöner machen, sprechen uns unterwegs häufig Passanten an. Die Hemmschwelle auf beiden Seiten sinkt durch das Gärtnern. Die Menschen kommen miteinander ins Gespräch.“ Das Ziel ist, dass die Menschen eine Aufgabe haben, Verantwortung übernehmen und wieder stärker Teil der Gesellschaft werden.
Laurids Elsing geht als Sozialarbeiter auch oft mit Querbeet auf Tour. „Morgens fragen wir im Kontaktcafé Plattform, wer mitmachen will. Es gibt auch Leute, mit denen wir ohnehin an jedem Werktag fest rechnen können. Wir bieten den Menschen an, etwas Nützliches zu tun und dabei auch ein paar Euro zu verdienen. Vor allem aber arbeiten wir auf Augenhöhe zusammen und tauschen uns über alles Mögliche aus.“ Nach dem Arbeitstag isst das Querbeet-Team zusammen Mittag. Das gehört neben der Bezahlung von 1,50 Euro pro Stunde zur Entlohnung. In einem gewöhnlichen Monat machen rund 40 verschiedene Menschen von diesem niedrigschwelligen Angebot Gebrauch. Und üben so, wie es wäre, eine geregelte Arbeit zu haben. Laurids ist sich sicher: „Wenn die Idee nicht mit den Besuchern unserer Einrichtung entstanden wäre, würden sie es heute sicher nicht so gut annehmen.“
Zuerst einmal wohnen
Samantha Kastenholz ist Sozialarbeiterin bei der WABe. Ihre Augen sind wach und mutig, ein Blick auf ihre dreckigen Schuhe verrät, dass sie eher mittendurch läuft anstatt drumherum. Sie hat in den vergangenen Wochen eine Wohnung eingerichtet. Hier darf jetzt für mindestens drei Monate eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern wohnen. Und es ist noch Platz für eine weitere Person, die bald einzieht. Diese WG ist eine sogenannte Clearing-Wohnung und dient dazu, als allererste Hilfe Wohnungslosen ein Zuhause zu geben. Denn von hier aus lässt sich besser organisieren, wie es weitergeht. Zum Beispiel das Besorgen von Unterlagen und Bescheinigungen, der Gang zum Jobcenter und Jugendamt, das Übersetzen von Behördendeutsch, das Ausfüllen von Anträgen. Es gibt einiges zu tun.
Das Angebot der WABe richtet sich an alleinerziehende Frauen und Männer. Diese gelten als besonders schutzbedürftig, und das Ziel ist, für die Eltern und Kinder zusammen eine Lösung zu finden. Die Wohnung hat drei Zimmer, Küche, Diele, Bad. Im gemeinsamen Wohnzimmer gibt es bisher noch wenige persönliche Gegenstände, aber hier befinden sich ein großer Tisch mit Stühlen, ein gemütliches Sofa, ein schöner Küchenschrank und ein Teppich mit Straßenmuster, auf dem sich leicht eine kleine Welt mit Spielzeugautos erschaffen lässt. Die Einrichtung kommt aus dem Sozialkaufhaus.
„Die eigene Wohnung zu verlieren,
Samantha Kastenholz
kann ganz harmlos anfangen.“
Samantha weiß aus Erfahrung: „Die eigene Wohnung zu verlieren, kann ganz harmlos anfangen. Zum Beispiel durch eine Kündigung aufgrund von Eigenbedarf. Manche kündigen auch ihre Wohnung selbst, weil sie umziehen wollen, und finden dann nichts Neues mehr.“ Der Markt für bezahlbare Wohnungen ist übersichtlich, Sozialwohnungen gibt es zu wenige. „Schulden durch unbezahlte Rechnungen sind auch oft ein Thema. Manche Menschen sind in solchen Situationen wie gelähmt und öffnen einfach keine Post mehr. Das ist dann natürlich keine gute Idee“, sagt Samantha. Deswegen sind die Mitarbeiter:innen der WABe froh, wenn sich jemand schon bei ihnen meldet, bevor ein Verlust der Wohnung droht. „Dann können wir mit unserer Beratung Schritte einleiten, dass es gar nicht erst so weit kommt“, sagt Samantha.
Die unterschiedlichen Angebote für Wohnungslose in Aachen und der Region sind gut miteinander vernetzt. Regelmäßig tauschen sich die Projektmitarbeiter:innen in Arbeitskreisen über die aktuelle Lage aus, um besser reagieren zu können und im Zweifel das Angebot anzupassen. Diese Angebote sind auch niedrigschwellig. Das bedeutet, die Hilfe ist schnell und unbürokratisch, was in der Lebenswelt der Betroffenen enorm wichtig ist. Denn wer einmal seine Wohnung verloren hat, verliert auch Halt und Perspektiven. Aus eigener Kraft wieder herauszukommen, ist nicht leicht. Darum braucht es auch die Unterstützung engagierter Öcher:innen wie Schwester Veronika, Björn, Mark, Laurids und Samantha.
Hier geben Öcher:innen eine Zukunftsperspektive
Armen-Schwestern vom heiligen Franziskus –
Franziska- Schervier- Stube
Die Wärmestube im Kloster wird durch Spenden ermöglicht. Auch Sachspenden sind nach Absprache willkommen.
Wie jede:r helfen kann: einen sogenannten Schervier-Taler (erhältlich in den Nobis-Bäckereien der Innenstadt) im Wert von 50 Cent für ein Frühstück kaufen und an wohnungslose oder arme Menschen weitergeben.
Caritas – Querbeet
Das Projekt Querbeet hilft den Teilnehmenden, ihren Tag zu strukturieren.
Die Kostenträger für das Projekt sind der Caritasverband, das Jobcenter der Städteregion, die Stadt und die Städteregion Aachen.
Das Projekt Querbeet ist spendenfinanziert, jede:r kann unterstützen.
Weitere Module des Cafés Plattform der Caritas: Ein Kontakt-Café mit der Möglichkeit zum Essen und Trinken, eine Notschlafstelle, eine medizinische Ambulanz, Streetworking, Beratung und der Kiosk Troddwar.
WABe e.V. – Clearing-Wohnung
Das Ziel des gemeinnützigen Vereins WABe e. V. ist die soziale Integration aller Menschen. Das Projekt „Clearing-Wohnung“ ist in Kooperation mit der Stadt Aachen zustande gekommen.
Es richtet sich an volljährige Frauen und Alleinerziehende mit Kindern in besonderen sozialen Schwierigkeiten.