Dieser Holzkopf gibt etwas preis, was uns bei echten Menschen oft verborgen bleibt: einen Blick ins Innerste. Geschaffen hat ihn die Aachener Künstlerin Brele Scholz.
Keiner blickt dir hinter das Gesicht – dies sind Worte aus einem Gedicht von Erich Kästner. Und es stimmt. Wir Menschen stecken in unseren Körpern, hinter unseren Gesichtern. Nur durch die Augen unseres Gegenübers können wir ein wenig hineinschauen und manchmal auch etwas erkennen. Sehen, was im Inneren passiert. Aber nie beobachten wir genau, was sich in den Köpfen der anderen abspielt. Was sich dort verankert hat. Welche Erfahrungen sie gemacht haben oder welcher Charakter in ihnen steckt.
„Was mich interessiert, sind Menschen und innere Bewegungen. Das Strahlen zum Beispiel oder die Melancholie.“
Brele Scholz
Die Skulptur, der dieses hellblaue Gesicht gehört, ist etwa so groß wie ein menschlicher Oberkörper. Sie ist aus Zedernholz und die Gesichtszüge sind etwas verzerrt. Durch die Mitte geht ein Riss. Die Nase ist groß, die Augen auch blau, der Mund verkniffen. Es könnte ein männlicher Kopf sein. Dickköpfig sieht er aus. Unnahbar und verschlossen. Und doch vielversprechend. Steht er auf seinem Sockel und wir vor ihm auf unseren Füßen, schauen wir ihm direkt ins Gesicht.
An der Nase packen und öffnen
Weil sich in der Kunst umsetzen lässt, was die Fantasie hergibt, kann man diesen blauen Schädel einfach an der Nase packen und öffnen. Die Gesichtshälften klappen nach rechts und links weit auf wie ein Fenster. Und Betrachter:innen können hineinschauen. Näher hinsehen. Noch näher. So lange und intensiv, wie sie wollen. Um verstehen zu können, was in diesem Kopf vor sich geht.
Zu sehen ist ein Straßenzug, eine Stadt mit Menschen, gegossen aus Harz in mehreren Schichten, auf die Brele Zeichnungen gesetzt hat. In der Stadt ist viel los, viele tummeln sich auf den Straßen. Shoppende Leute, Punks, ein altes Paar mit einem Hund, ein Musiker und tanzende Menschen. In diesem Kopf gibt es viel zu entdecken: die Vielfalt unserer Gesellschaft in einer beliebigen europäischen Stadt.
Was aus dem Inneren heraustritt
Die Frau, die diese Holzkopf-Skulptur geschaffen hat, heißt Brele Scholz. Sie ist Bildhauerin. „Was mich interessiert, sind Menschen und ihre inneren und äußeren Bewegungen“, sagt Brele. „Das, was dann aus ihrem Inneren heraustritt. Das Strahlen zum Beispiel oder die Melancholie.“
Brele ist heute 63 Jahre alt. Als sie sehr jung ist, gerade 17, geht sie nach Frankreich und lernt dort das Maurerhandwerk. Das prägt sie für ihr Leben. „Als ich 30 war und mit der Kunst anfing, wollte ich ausdrücken, was mich bewegt.“ Es ging ihr um: Politisches, mehr Gerechtigkeit, die Verschiedenheit der Menschen und Toleranz.
Als Brele das Holz für sich entdeckt, hat sie gespürt, dass dies genau das ist, was sie machen will. „Holz ist, wie wir Menschen auch sind“, sagt sie. „Wenn es morsch ist oder hohle Stellen hat, dann gehört das immer zu meiner Skulptur dazu. Es gibt schließlich auch Menschen, die so sind.“ Dieser blaue Kopf mit der Stadtgesellschaft ist einer von 27 aufklappbaren Köpfen. Brele nennt sie die Europäer. Einige sind noch bei ihr im Atelier, andere sind verkauft oder in verschiedenen Museen. Ihre Idee war, mit den Europäern zu zeigen, dass die Menschen zwar alle aus Holz geschnitzt sind, sich aber auch sehr voneinander unterscheiden. Äußerlich und innerlich. Brele sagt dazu: „Wir Europäer sind uns ähnlich und gleichzeitig haben wir eine große Vielfalt zu bieten.“
„ Holz ist, wie wir Menschen auch sind. Wenn es morsch ist oder hohle Stellen hat, dann gehört das immer mit dazu.“
Brele Scholz
Brele macht auch andere Menschen aus Holz. Oft überlebensgroß, oft nicht nur Kopf, sondern auch viel Körper. Das Schwierigste, sagt Brele, ist, die richtige Form zu finden. Die ergibt sich erst, wenn sie dabei ist, sie zu erschaffen. Jedes Holz, das sie gehauen hat, sieht anders aus. Darum wirkt auch jede Figur auf ihre eigene Art anders.
Die Menschen dürfen ihre Kunst anfassen und entdecken. Das ist der Künstlerin wichtig. Den Kopf schließen die meisten Betrachter:innen wieder, nachdem sie gesehen haben, was darin ist. Das drückt Achtung aus vor dem Gegenüber. Und das ist schön so. Keiner weiß, wie reich du bist … (Und du weißt es manchmal selber nicht.) Schreibt Erich Kästner.
Schaue auch in diese Köpfe!
Larzac, ein Europäer mit Heimweh
Von außen sieht das Gesicht vielleicht verkniffen und traurig aus. Schaut man hinein, sieht man, dass dieser Kopf das Land vermisst, in dem er aufgewachsen ist: die karge und weite Landschaft Frankreichs.
Flucht, Nasses Grab Mittelmeer
Mitten auf dem weiten Meer schwimmt ein winziges Boot. Wie eine Nussschale treibt es auf dem Wasser. Kannst du es erkennen? Viele Geflüchtete kommen auf diesem Weg nach Europa. Geflüchtete bringen oft ein Trauma mit, wenn sie diese Erfahrung gemacht haben.
Krieg, Aleppo
Im Krieg wurde 2016 die Stadt Aleppo in Syrien zerstört. Das hat sich in diesem Kopf aus Birkenholz eingegraben: Kaputte Häuser und zerfetzte Bäume. Eine Schlucht führt durch die Mitte dieser Erinnerung. An den Seiten fliehen die Bewohner:innen.
Weibliche Ursuppe
Dieser Kopf gehört einer Frau. Wenn er geschlossen ist, berühren sich Frau und Mann im Inneren. Wenn du den Kopf öffnest, siehst du, dass neue Menschen entstehen. Brele nennt diesen Kopf die „weibliche Ursuppe“.
Klimakatastrophe
In der Mitte des Kopfs liegt ein geknülltes, mit Kunstharz lackiertes Papier. Es sieht aus, wie ein grüner Planet. Du siehst hier den Klimawandel. Er bedroht die Tier- und Pflanzenwelt.