Julian Hofmann von der RWTH will alle Bürger:innen warnen, wenn eine Überflutung bevorsteht. Darum entwickeln er und sein Team für Aachen jetzt das modernste Frühwarnsystem der Welt.
Julian, du arbeitest an einer Technik, die Aachens Bewohner vor einer Überflutung warnen soll. Wie hoch ist denn die Gefahr, dass Aachen überflutet wird?
Bei unserem Frühwarnsystem geht es um Überflutungen durch Starkregen. Wenn so ein Starkregen zu heftig wird, überfordert er die Kanalisation und flutet jede Stadt, natürlich auch Aachen. Viele werden sich noch an den Mai 2018 erinnern, als es mittags innerhalb von nur einer Stunde rund 40 bis 50 Liter pro Quadratmeter runterregnete – ich jedenfalls erinnere mich gut: Die ganze Innenstadt war überschwemmt, Keller liefen voll. Wir gehen davon aus, dass so etwas wegen des Klimawandels häufiger passieren wird.
Wie funktioniert deine Vorhersage?
Wir haben am Computer ein sehr genaues dreidimensionales Modell von Aachen gebaut. Für jeden Quadratmeter kennen wir die Eigenschaften: die Art des Bodens – zum Beispiel Asphalt oder Wiese –, ob dort ein Gebäude steht oder nicht, wie die Gefälle liegen und wo alle unterirdischen Kanäle verlaufen. Damit können wir genau berechnen, wohin das Regenwasser wie schnell fließt und wo es sich sammelt.

Aber dazu musst du doch schon vorher wissen, wohin genau der Regen fällt.
Seit kurzem steht in der Pascalstraße im Industriegebiet auf dem Dach der Firma Kisters ein hochauflösendes sogenanntes X‑Band-Radar. Das moderne Radar beobachtet das Wetter und kann mit einer Auflösung von 25 mal 25 Metern messen, wie stark es wo regnet. Auf dieser Grundlage wird eine Niederschlagsvorhersage für die nächsten ein bis zwei Stunden ermittelt.
Was bringt es eigentlich, wenn man zwei Stunden vor dem Starkregen gewarnt wird?
Das ist vor allem eine Hilfe für die Polizei und die Feuerwehr. Wenn die wissen, welche Straßen und Unterführungen überschwemmt werden, können sie diese vorher absperren. Vielleicht muss ein Krankenhaus evakuiert werden. Oder es droht ein Stromausfall, weil bald Umspannwerke oder Transformatorstationen unter Wasser stehen. Es ist auf jeden Fall gut, wenn man sich auf so ein Ereignis vorbereiten kann. Bürgerinnen und Bürgern hilft es auch, wenn sie wissen, wo es in einer Stunde eine Überschwemmung geben wird. Du könntest zum Beispiel noch dein Auto an einen sicheren Ort umparken.
„Wir können fast auf den Meter genau vorhersagen, wie stark es wo Überschwemmungen geben wird“
Julian Hofmann, Wasserbauingenieur
Was soll ich eigentlich tun, wenn ein Starkregen die Stadt flutet?
Die meisten unterschätzen die Macht des Wassers und die Kraft der Strömung. Wenn eine Straße überflutet ist: Fahr dort nicht mit dem Auto. Und überquer sie auch nicht zu Fuß. Das ist zu gefährlich. Zum Beispiel können die Wassermassen Kanaldeckel heben und sie wegspülen. Bei Flut kann man aber das Loch vom Kanal nicht sehen. Menschen sind schon in überflutete Kanalrohre gerutscht und ertrunken. Bleib also lieber weg vom Wasser, wenn es geht. Und Keller sollte man ebenfalls meiden. Wenn dort Wasser eindringt, drohen Stromschläge.
Wie werde ich in Zukunft gewarnt, wenn so eine Sturzflut bevorsteht? Bekomme ich dann eine Mitteilung aufs Handy?
Ja, vielleicht. Denkbar wäre eine Smartphone-Warnung oder eine Warnung an alle Navis für Autofahrer oder ein Hinweis auf elektronischen Verkehrszeichen. Und klassische Methoden wie Sirenen oder Radiodurchsagen. Wir wollen auf jeden Fall alle Rettungskräfte wie Feuerwehr, Polizei und Technisches Hilfswerk direkt warnen. Aber natürlich auch die Bevölkerung. Wie genau diese Warnungen aussehen werden, klären wir später. Derzeit arbeiten wir daran, dass eine Vorhersage überhaupt gelingt.
Warum gibt es so eine punktgenaue Überflutungsvorhersage nicht schon längst?
Das liegt an der hohen Rechenzeit: Beim 3D-Modell für Aachen berechnet der Computer Interaktionen in über mehreren 100 Millionen sogenannter Zellen gleichzeitig. Heute haben wir bessere Computer als früher. Doch selbst schnelle Computer brauchen für so eine Rechnung zwei Tage. Das ist im Ernstfall natürlich zu langsam. Aber wir haben einen Trick.
„Überflutung durch Starkregen wird es immer häufiger geben.“
Julian Hofmannn, Wasserbauingenieur

Was für einen Trick?
Künstliche Intelligenz. Wir haben den Computer so programmiert, dass er lernen kann. Er wird sozusagen auf Grundlage von Ergebnissen der Überflutungssimulationen trainiert. Die künstliche Intelligenz rechnet über Monate hinweg alle möglichen Szenarien durch. Und wenn dann tatsächlich ein Starkregen bevorsteht, greift sie auf das Gelernte zurück. Auf diese Weise verkürzen wir die Rechenzeit auf wenige Sekunden.
Wann ist dein Warnsystem einsatzbereit?
Ich denke, in zwei bis drei Jahren haben wir einen Prototyp. Wir hoffen, dass wir ihn bis dahin testen können, wenn wieder ein Starkregen auf Aachen niedergeht. Bevor wir die Menschen warnen, wollen wir ganz sicher sein, dass das System funktioniert. Denn wenn wir warnen und es passiert dann nichts, nimmt uns das nächste Mal keiner mehr ernst.
Berechenbare Flut
Drei typische Szenarien bei einem Starkregen, für die das System sofort berechnen kann, wo sie in der Stadt auftreten werden.

Bei hoher Fließgeschwindigkeit rauscht das Wasser einfach über Kanaldeckel (1) hinweg und sammelt sich in nachgelagerten Vertiefungen (2).

Überflutungen passieren auch aus dem Untergrund: Wenn die Kanalisation an einer Stelle (1) besonders viel Wasser aufnimmt, sammelt es sich weiter unten im Kanal (2) und drückt durch die Schächte nach oben.

Auch wenn die Überflutung in manchen Bereichen harmlos ist oder schon zurückgeht (1), können tiefliegende Bereiche wie etwa Unterführungen für Fußgänger oder Verkehr kritisch sein (2).
Das Frühwarnprojekt
In Aachen entsteht das erste Echtzeit-Warnsystem bei Starkregen. Das Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft (IWW) unter Professor Holger Schüttrumpf leitet das Projekt ISRV (Intelligente starkregenbedingte Überflutungsrisikowarnung im Verkehrssektor).
Projektpartner sind die Aachener Firmen Kisters AG, 4traffic und Schwietering Ingenieure GmbH. Das Bundesverkehrsministerium unterstützt die Forschung.